Aktuelles | 18.03.2024 | Mosaik Verlag

"Wie gesund wollen wir sein?" - Interview mit Sven Jungmann

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Wie gesund wollen wir s...

Sven Jungmann, Thomas Lindemann

Weltweit führen Länder wie die USA und China die Digitalisierung der Medizin an. Woran liegt es, dass Deutschland hinterherhinkt?

In erster Linie gibt es ein erhebliches Defizit an digitaler, Daten- und KI-Kompetenz bei den wichtigsten Akteuren, darunter Politiker, Beamte und medizinisches Personal. Das führt nicht nur dazu, dass man sich auf veraltete Praktiken verlässt, sondern schürt auch uninformierte Ängste in Bezug auf KI, wie z.B. den Glauben, dass sie die Pflege entmenschlichen könnte oder der menschlichen Interaktion unterlegen ist. Auch eine enge Zusammenarbeit zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz ist für viele nicht vorstellbar. Darüber hinaus steht das Gesundheitssystem unter einem immensen Druck, der wenig Raum für Innovationen lässt. Krankenhäuser und Gesundheitsdienstleister haben zu wenige Kapazitäten, um in neue Technologien zu investieren. Schlecht durchgeführte Projekte, wie das E-Rezept und die elektronische Patientenakte, haben der Digitalisierung darüber hinaus einen schlechten Ruf verpasst.
Ein weiteres Hindernis sind die komplexen Vorschriften für Innovationen im Gesundheitswesen in Deutschland. Die bürokratischen Hürden und die langsamen Regulierungsverfahren schrecken viele potenzielle Innovatoren und Investoren davon ab, sich auf dem europäischen Gesundheitsmarkt zu engagieren. Hinzu kommt der spürbare Widerstand etablierter Akteure im Gesundheitswesen, die ein ureigenes Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo haben. In Ländern wie den USA hingegen werden Innovationen im digitalen Gesundheitswesen sowohl von der Regierung als auch vom Markt stärker unterstützt.

Die elektronische Patientenakte (ePA) gibt es in Deutschland bereits seit 2021, aber weniger als 1 % der Menschen nutzt sie. Woran liegt die Skepsis?

Die Skepsis in Deutschland resultiert aus einer Mischung aus mangelnder digitaler Kompetenz in allen Bevölkerungsebenen, Zweifeln an dem Datenschutz und Bedenken hinsichtlich der Art, wie diese Akte entwickelt wurde. Studien zeigen eine breite Unzufriedenheit mit den digitalen Fortschritten unseres Landes, insbesondere in der öffentlichen Verwaltung, wo 70 % der Befragten keine wesentlichen Fortschritte sehen. Die Probleme werden durch das mangelnde Vertrauen in die Datenschutzfähigkeiten der Regierung noch verstärkt.
Die Entwicklung der ePA nach dem „Wasserfall“-Prinzip, bei dem von oben nach unten Ver-fahren durchgedrückt wurden, hat zu einem Produkt geführt, das den Erwartungen moderner Benutzer an nahtlose und intuitive digitale Erfahrungen nicht gerecht wird. Das steht in krassem Gegensatz zu den agilen, nutzerzentrierten Methoden, die sich im digitalen Bereich als Industriestandard etabliert haben.
Darüber hinaus hätte die ePA aus meiner Sicht als Mediziner statt einer bloßen digitalen Version einer Papierakte ein "digitaler Zwilling" sein können, der einen umfassenden, dynamischen Überblick über die Gesundheit bietet. Dieses Konzept wird in unserem Buch ausführlich beschrieben, ist aber in der aktuellen Form der ePA auffällig abwesend. Alles in allem verkörpert die ePA nicht das innovative, nutzerorientierte Produkt, das notwendig ist, um das Gesundheitswesen in Deutschland zu revolutionieren.


Luft-Sensoren, intelligente Kontaktlinsen, schluckbare Messinstrumente: Die Zukunft der Medizin gehört neuen Sensoren und KI-Geräten, deren gewonnene Daten in Verbindung miteinander gesetzt werden. Was genau verbirgt sich dahinter?

Die Zukunft der Medizin entwickelt sich mit der Integration neuer Sensoren, KI-Geräten und dem Konzept der multimodalen Analyse rasant weiter. Bei diesem revolutionären Ansatz geht es darum, die Leistungsfähigkeit verschiedener Sensoren und Geräte wie Luftsensoren, intelligente Kontaktlinsen und einnehmbare Messgeräte zu nutzen, um verschiedene gesundheits-bezogene Daten zu sammeln. Indem wir diese Daten gemeinsam analysieren, können wir ein tieferes Verständnis von Gesundheitszuständen erlangen, die Diagnostik verbessern und Behandlungen auf individuelle Bedürfnisse zuschneiden.
Derzeit gibt es z. B. ein weltweites Rennen um die Entwicklung von Atemtests, die über eine Analyse der ausgeatmeten Luft tiefe Einblicke in den Körper erlauben. Verschluckbare Sensoren können durch den Verdauungstrakt wandern und wertvolle Daten über die Darmgesundheit liefern oder sogar Veränderungen erkennen, die auf eine Krankheit hindeuten könnten, und andere Sensoren messen mit einem feinen Faden in der Haut verschiedene diagnostisch wichtige Moleküle nahezu in Echtzeit. Diese Fortschritte werden durch die Fähigkeit der KI ermöglicht, Daten aus verschiedenen Quellen zu kombinieren, um Muster und Korrelationen zu erkennen, die für Menschen unsichtbar wären. Die Integration dieser Technologien in die alltägliche Gesundheitspraxis bedeutet einen Wandel hin zu einem proaktiven und personalisierten Gesundheitssystem: Es geht nicht mehr nur um die Behandlung von Krankheiten, sondern darum, die Gesundheit des Einzelnen auf einer detaillierten Ebene zu verstehen und das Wohlbefinden proaktiv zu erhalten.

Man könnte meinen, KI und Digitalisierung werden bald medizinische Wunderlösungen bringen. Liegt darin aber nicht die große Gefahr, dass wir die Verantwortung für unsere Gesundheit abgeben?
Die Sorge ist berechtigt und sie besteht schon seit es Medikamente gibt. Viele Menschen wünschen sich einen Zauberstab, der alles repariert, was sie an ihrem Körper über Jahrzehnte mit einem schlechten Lebensstil kaputt gemacht haben. Doch noch immer gilt, dass Prävention besser ist als Heilung.
Auch Fortschritte im Bereich der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz sollten nicht als Abkürzungen zu medizinischen Durchbrüchen gesehen werden, die den Einzelnen davon entbinden, sich um seine Gesundheit zu kümmern. Stattdessen sollen KI und digitale Tools uns mehr Möglichkeiten bieten, indem sie uns mehr Daten und Erkenntnisse zur Verfügung stellen, damit wir fundierte Entscheidungen über unsere Gesundheit und unseren Lebensstil treffen können.
Richtig eingesetzt, kann die Digitalisierung uns darin stärken, einem gesunden Lebensstil nachzugehen. Und sie kann uns helfen, Probleme anzugehen, bevor wir überhaupt merken, dass wir auf sie zusteuern. Dieser Wandel von einem reaktiven zu einem proaktiven Gesundheitssystem ist aus meiner Sicht als Arzt von essenzieller Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit unserer Versorgung.

Welche Bedeutung hat das alles für mein Leben?

Eine gute Digitalisierung in der Medizin würde viel verbessern, ganz praktisch und für jeden einzelnen Patienten. Jedes Jahr sterben in den USA rund 800.000 Menschen an schweren Folgen von Fehldiagnosen oder haben schwere Einschränkungen. In 74 Prozent der Fälle liegt das an Fehlern der Ärztinnen und Ärzte.
Die Situation in Deutschland ist zwar anders, aber nicht viel besser. Die zunehmenden Engpässe nimmt jeder dritte Bürger wahr, in Ostdeutschland mit 53 Prozent sogar mehr als jeder zweite. Das Problem: Es wird schlimmer, nicht besser.

Das Interview führte Stefanie Stein für den Mosaik Verlag. Interview bei gleichzeitiger Abbildung des Buchcovers zum Abdruck freigegeben.

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