Aktuelles | 22.11.2023 | Goldmann

»Keine Schwangere sollte angstvoll in die Klinik gehen.«

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Dr. med. Richard Krüger über sein Buch »In der Geburtsklinik«.

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Cover

Herr Dr. Krüger, Sie haben in Ihrer Praxiserfahrung als Assistenzarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe festgestellt, dass viele Menschen im Kreißsaal nicht genau wissen, was genau auf sie zukommt. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Informationen, die werdende Eltern vor der Geburt wissen sollten, und auf welche Missverständnisse oder Unsicherheiten möchten Sie in Ihrem Buch besonders eingehen?

Als Assistenzarzt ist man unmittelbar mit Schwangeren und Gebärenden in Kontakt und neben der Hebamme ihr erster Ansprechpartner in der Klinik. Für mich war es erstaunlich festzustellen, dass viele werdende Eltern mit der Erwartungshaltung zur Geburt in die Klinik kommen, dass sie ein zwar anstrengendes, aber vor allem besonders schönes Geburtserlebnis erwartet. Viele Schwangere kennen die verschiedenen Phasen der Geburt sowie Atemtechniken und Geburtspositionen, wurden jedoch nie darüber aufgeklärt, was sie dabei genau für Abläufe und Entscheidungen erwarten.

Unvermeidliche Erfahrungen bei einer vaginalen Geburt wie Schmerz, Verzweiflung oder gegebenenfalls die Geburt durch einen anderen Geburtsmodus, wie beispielsweise mithilfe einer Saugglocke oder durch einen Kaiserschnitt, werden häufig vorab nicht thematisiert. Sollte der Geburtsverlauf von der Erwartungshaltung dann abweichen, wird dies häufig als überraschende Stresssituation und Niederlage empfunden. Die seelischen und körperlichen Konsequenzen können dann für Mutter und Kind gravierend sein und lange andauern.

Ziel dieses Buches ist es werdenden Eltern daher die genauen Abläufe in einer Geburtsklinik mit spannendem Hintergrundwissen zu erklären und diese mit Beispielen aus dem Klinikalltag greifbar zu machen. Wer weiß, was auf einen zukommt, ist im Moment des Erlebens in Ruhe und versteht, was mit einem geschieht. So bleiben mehr Kraft und Konzentration für die eigentliche Geburt und Freude auf das Baby.

 

Die Geburtshilfe hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt. Welche Fortschritte oder Veränderungen in der Geburtenbetreuung haben Sie erlebt, die Ihrer Meinung nach für angehende Eltern besonders wichtig sind?

Die moderne Frauenheilkunde stellt nicht nur die Geburt des Kindes in den Vordergrund, sondern auch die individuellen Bedürfnisse und die körperliche Unversehrtheit der Schwangeren. Daher gibt es viele gute Nachrichten:

Früher waren Schwangere zur Geburt dem Klinikpersonal ausgeliefert und es wurde so geboren, wie eben die Hebamme oder Ärztin es für richtig hielt. Heutzutage steht der Wunsch der Gebärenden an erster Stelle. Eine informierte Schwangere kann ihre Wünsche konkreter formulieren und versteht, was um sie herum passiert. Allerdings sind wir alle in Stresssituationen kaum aufnahmefähig, sodass alle Aufklärung während der Geburt die Schwangere kaum erreicht. Daher ist es so wichtig, sich vorab zu informieren, um die fortschrittliche Geburtshilfe auch tatsächlich erfahren und mitgestalten zu können.

Darüber hinaus stehen Gebärenden eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Linderung von Geburtsschmerzen zur Verfügung. Beispielsweise kann jede Schwangere heutzutage per Knopfdruck die Medikamentenmenge selbst dosieren, die sie per Periduralanästhesie (PDA) erhält. Früher gab es bei Schmerzlinderung durch eine PDA häufiger die Nebenwirkung der Bewegungsunfähigkeit der unteren Körperregion oder schlichtweg die Empfehlung: Zähne zusammenbeißen.

Zunehmend interessieren sich Hebammen und Frauenärztinnen für den Beckenboden der Frau. Dieser wird bereits durch Schwangerschaft an sich belastet, eine vaginale Geburt kann dann häufig zum Zerreißen dieser Muskel- und Bindegewebsschicht führen. Viele Frauen erleben anschließend eine vorübergehende oder bleibende Inkontinenz (von Urin und / oder Gasen und / oder Stuhl) sowie sexuelle Missempfindung und mit zunehmenden Alter Senkungsbeschwerden, die erhebliche Einschränkungen des sozialen und sexuellen Lebens jeder Frau bedeuten. Früher war dies ein Tabuthema, heute gehört der Beckenboden zu jeder guten Geburtsvor- und Nachbereitung.

Mittlerweile ist bekannt, dass ein Dammschnitt keine höhergradigen Geburtsverletzungen verhindert, wie lange angenommen wurde. Stattdessen darf eine sogenannte Episiotomie nur nach vorheriger Ankündigung durchgeführt werden, wenn das Baby bei der Geburt von einer Sauerstoffunterversorgung bedroht ist und nur mithilfe eines Dammschnitts sofort geboren werden kann. Das hat – zum Wohle aller Frauen – in den letzten Jahrzehnten zu einer deutlichen Reduktion der Dammschnittrate auf zehn bis 20 Prozent geführt.

 

Wie sehen Sie die Zukunft der Geburtshilfe angesichts dieser Fortschritte in der Medizintechnik und der zunehmenden Beliebtheit alternativer Geburtsorte, wie beispielsweise Geburtshäusern? Gibt es Entwicklungen, die Sie besonders optimistisch stimmen oder Herausforderungen, die es zu bewältigen gibt?

Optimistisch sehe ich das zunehmende Interesse der Öffentlichkeit, hinter die Kulissen der nach außen dargestellten Welt zu blicken. Das betrifft beispielsweise die Arbeitswelt, die Herstellung und Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und eben auch die Geburt. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: Durch die Wahl eines Nahrungsmittels kann ausgeschlossen werden, dass man etwas zu sich nimmt, gegen das man sich entschieden hat. Die Wahl des Geburtsortes kann jedoch nicht verhindern, dass bei der Geburt am Ende nicht doch medizinische Hilfe in der Klinik notwendig wird, die statistisch gesehen jede zweite Schwangere in Anspruch nimmt. So wünscht z.B. – egal ob zuvor geplant oder nicht – jede vierte Schwangere die Linderung der Geburtsschmerzen mithilfe einer Periduralanästhesie (PDA) und jedes dritte Kind in Deutschland wird per Kaiserschnitt geboren. In diesem Fall ist man außerhalb einer Geburtsklinik am falschen Ort und muss erstmal in ein Krankenhaus transportiert werden, bevor notwendige Hilfe geleistet werden kann. Eben dieser Transport während der Geburt und die verzögerte Hilfe wird dann als besonders traumatisch erlebt. Tatsächlich wählen allerdings 98,5 % der Schwangeren die Klinik als Geburtsort und eben nicht das Geburtshaus oder Zuhause. Es bleibt eine wichtige Herausforderung, die Geburt in der Klinik so angenehm und individuell wie möglich zu gestalten, ohne auf die Sicherheit der modernen Geburtshilfe zu verzichten.

Besonders optimistisch stimmt mich die Sicherheit der modernen Geburtshilfe. Man darf nicht vergessen, dass die Geburt für jeden Menschen einen der gefährlichsten Momente des Lebens darstellt. Diesen durchleben Frauen dann zum zweiten Mal, wenn sie selbst gebären. Es ist heutzutage nahezu ausgeschlossen, dass gesunde Schwangere und Babys ohne Vorerkrankungen bei der Geburt versterben. Wir halten das für selbstverständlich, aber es ist ein erkämpfter und grandioser Erfolg der Wissenschaft und Medizin.

 

Die psychologische Unterstützung während der Geburt ist ein wichtiger Aspekt. Welche Tipps haben Sie für Frauen, um sich emotional auf die Geburt vorzubereiten und wie können Partner*innen oder unterstützende Personen dazu beitragen?

Wer sich fit und gut fühlt, dem empfehle ich lediglich sich psychisch auch auf Szenarien vorzubereiten, die weder geplant noch gewünscht sind. Die Erwartungshaltung spielt bei der Geburt eine bedeutende Rolle, die aus meiner Sicht von vornherein thematisiert werden sollte, um nicht enttäuscht zu werden.

Bestehen schon vor oder während der Schwangerschaft psychische Belastungen, wie z.B. partnerschaftliche Konflikte, wurde sexuelle Gewalt erlebt, bestehen Sorgen gegenüber der näher rückenden Zeit mit dem Kind oder sind eine Depression oder Persönlichkeits- oder posttraumatische Belastungsstörungen bekannt, sollte unbedingt VOR der Geburt eine psychotherapeutische Vorstellung erfolgen. Denn die Geburt und die erste Zeit mit dem Kind ist nicht nur eine große körperliche, sondern vor allem auch eine psychische Herausforderung. So ist man direkt mit der vertrauten Therapeutin / dem vertrauten Therapeuten in Kontakt, wenn nach der Geburt Gesprächs- oder Therapiebedarf entsteht.

Partner*innen sollten ganz tief in sich hineinhören, ob sie selbst bei der Geburt dabei sein wollen oder nicht. Denn hiervon hängt maßgeblich ab, ob die Begleitperson für die Schwangere während der Geburt zur Unterstützung oder sogar zur zusätzlichen Belastung wird. Beide – Schwangere und Begleitperson – sollten sich im Verlauf der Schwangerschaft immer wieder ganz ehrlich selbst und gegenseitig die Frage stellen, wer die aus ihrer Sicht am besten geeignete Person ist, um die vielen anstrengenden Stunden im Kreißsaal an der Seite der Schwangeren zu verbringen. Es ist völlig in Ordnung, wenn das der oder die Partner*in ist und es ist völlig in Ordnung, wenn das eine andere, der Schwangeren vertraute Person ist.

 

Gibt es abschließend noch einen besonderen Moment oder eine Geschichte aus der Praxis, die Sie gerne mit uns teilen möchten?

Als junger Assistenzarzt habe ich ein Elternpaar die ganze Nacht begleitet, die – im wahrsten Sinne des Wortes – eine schwierige Geburt hatten. Als nach langer Zeit und völliger Erschöpfung der werdenden Mutter ihr kleiner Junge zur Welt kam, hielt sie ihn einfach in ihren Armen an ihre Brust gedrückt und ihr Partner hielt wiederum sie umschlungen in den Armen und beide weinten still vor unendlicher Erleichterung und Glück.

Die Liebe zu dem eigenen Neugeborenen ab der ersten Lebenssekunde an lässt mich immer wieder Gänsehaut-Momente erleben. Es zeigt mir wie nichts anderes, dass Gesundheit und Liebe die wichtigsten und schützenwertesten Dinge sind, die es im Leben gibt. Dafür arbeiten wir Tag und Nacht.

Schwangerschaft und Geburt sind wahnsinnig spannend und es macht mir Freude, das Interesse hieran in anderen zu wecken und Ängste und Anspannung durch beruhigende Information zu nehmen. Willkommen im schönsten Fach der Medizin: der Geburtshilfe!

 

© Goldmann Verlag
Interview: Sarah Bergius
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